Analphabeten soll das Wählen ermöglicht werden

VHS bietet Onlinehilfe an - 196 000 Fälle in Rheinland-Pfalz

Von Marco Plein

Es gibt Dinge im Leben, die sind für die meisten so selbstverständlich, dass sie sich darüber gar keine Gedanken machen. Sich am Morgen die Zähne putzen oder abends ein Bierchen trinken, was auch immer. Was aber, wenn man mit den vermeintlich leichtesten Alltagsdingen die allergrößten Probleme hat? Wenn man weder lesen noch schreiben kann? Das hat gravierende Folgen, man kann zum Beispiel nicht wählen gehen – und genau deswegen engagiert sich die Volkshochschule Neuwied für Analphabeten. Sie will ihnen in der Zeit bis zur Bundestagswahl am 27. September das Ausfüllen des Wahlzettels vereinfachen.

Für die Wahlmobilcrew war dieses Engagement Grund genug, in ihren Minibus zu steigen und vor dem Welt-Analphabetentag am Dienstag einen Abstecher nach Neuwied zu machen.

 „Wir helfen politisch interessierten Leuten, die wählen wollen, das aber nicht können, weil sie Analphabeten sind“, erklärt Ursula Jungbluth, Fachbereichsleiterin für Alphabetisierung an der VHS. Die vom Deutschen Volkshochschul-Verband ins Leben gerufene Internetseite ich-will-wählen-gehen.de soll den bundesweit rund vier Millionen Analphabeten mit akustischen Signalen helfen, die für sie immens hohe Hürde Bundestagswahl nehmen zu können. Jede einzelne Klickmöglichkeit gibt es auch als gesprochenes Wort, so kann sich der Besucher Stück für Stück nach vorne tasten: sich über die Wahl, Parteien, Stimmzettel und alle weiteren interessanten Themen rund um die Bundestagswahl informieren. „Die Internetseite kann helfen und erklären, der entscheidende Schritt, zur Wahl zu gehen, muss dann aber von der Person selbst kommen.“

Allein in Rheinland-Pfalz gibt es etwa 196 000 Analphabeten – das sind ziemlich genau so viele Menschen wie in der Landeshauptstadt Mainz leben. „Können Sie sich vorstellen, dass ganz Mainz nicht wählen kann?“, fragt die Pädagogin. Viele der Betroffenen konnten früher mal lesen und schreiben, haben es aber wieder verlernt, da sie es ganz einfach nicht mehr regelmäßig gemacht haben. „Bei Fernfahrern kann so etwas zum Beispiel vorkommen“, erzählt Ursula Jungbluth. „Die merken sich einfach irgendwann nur noch gewisse Strecken und Bilder. Und langsam bildet sich dann die Fähigkeit, Worte zu schreiben und zu lesen, zurück. Das ist für die meisten Leute kaum vorstellbar, aber es ist wahr.“ Auch die Volontäre der Rhein-Zeitung staunen, als sie hören, wie viele Menschen darunter leiden, nicht in geschriebener Sprache kommunizieren zu können.

Um sich bei der VHS, die natürlich neben der Unterstützung durch die Webseite auch zahlreiche Kurse für Analphabeten anbietet, zu melden, ist eine Riesenportion Mut vonnöten. „So eine Bundestagswahl kann aber ein Anlass sein, zu dem sich tatsächlich Leute melden, die ihr Problem in den Griff bekommen wollen“, erzählt Ursula Jungbluth. „Das gibt uns Hoffnung.“

In ihrem Büro hängt eine Bilderwand mit ehemaligen Analphabeten. „Jetzt geht es mir besser“, „nun fühle ich mich viel wohler“. Solche und ähnliche Sätze sind dort zu lesen. Es wäre ihr zur wünschen, wenn dort auch bald jemand hinschreiben würde: „Ich konnte zum ersten Mal wählen, und das war eine gute Erfahrung.“IVWPixel Zählpixel